Regressforderungen aussetzen: Mediziner veröffentlichen Kommuniqué
Um bei schweren Krankheiten helfen zu können, müssen Ärzte Medikamente oft anders verordnen als deren Zulassung es vorsieht (Off-Label Use) - doch die gesetzlichen Krankenversicherungen übernehmen die Kosten dafür nicht. Die Teilnehmer der Tagung "Arzneimittelverordnung außerhalb der Zulassungsindikationen (Off-label-Use)" am 27.10. und 04.12.2001 haben daher ihre Ergebnisse jetzt in einem Kommuniqué veröffentlicht. Kurzfristig empfehlen die Mediziner, die Regressforderungen der Kassen zurückzunehmen, um jedem Patienten eine erfolgversprechende Therapie nach aktuellem medizinischen Wissensstand zu ermöglichen.
Bochum, 19.02.2002
Nr. 55
Mediziner veröffentlichen Kommuniqué
Arzneien außerhalb der Indikation verschreiben
Ärzte fordern: Regressforderungen aussetzen
Um bei schweren Krankheiten wie z. B. Krebs oder Aids helfen zu können, müssen Ärzte Medikamente oft anders verordnen als deren Zulassung es vorsieht (Off-Label Use). Trotz wissenschaftlicher Begründung und dem erwiesenen Erfolg solcher Therapien übernehmen die gesetzlichen Krankenversicherungen die Kosten dafür nicht: Sie stellen Regressforderungen - in einzelnen Fällen sechsstellige Eurobeträge - an die betroffenen Ärzte. Auswege aus der Zwickmühle der Mediziner suchten die Teilnehmer der Tagung "Arzneimittelverordnung außerhalb der Zulassungsindikationen (Off-label-Use)" am 27.10. und 04.12.2001. Ihre Ergebnisse haben sie jetzt in einem Kommuniqué veröffentlicht. Kurzfristig empfehlen die Mediziner, die Regressforderungen der Kassen zurückzunehmen, um jedem Patienten eine erfolgversprechende Therapie nach aktuellem medizinischen Wissensstand zu ermöglichen. Sie plädieren außerdem für ein kompetentes Gremium, das diesen aktuellen Stand laufend ermitteln soll. Langfristig halten sie Gesetzesinitiativen für eine Regelung des Off-Label-Use für sinnvoll.
Text des Kommuniqués
I. Situationsbeschreibung
"Die in jüngster Zeit aufgetretene Tendenz der Kassen, eine Arzneimittelverordnung außerhalb der arzneimittelrechtlich engen Zulassungsindikationen mit einer Regressforderung an die Ärzte zu beantworten, stellt für Patienten und Ärzte ein gleichermaßen schwerwiegendes Problem dar. Die derzeit in den für Arzneimittel kostenintensiven Bereichen der Medizin bestehenden Regressforderungen belaufen sich in Einzelfällen auf sechsstellige Euro-Beträge. Dieses Vorgehen schadet direkt den Patienten, die sowohl von teils etablierten wie teils innovativen Therapien abgeschnitten werden, weil es die Behandlungsmöglichkeiten der Ärzte einschränkt, da diese die Kosten der verordneten Arzneimittel nach einem erfolgreichen Regressverfahren selbst tragen müssen. Betroffen sind vor allem chronisch und schwerkranke Patienten aus allen Fachgebieten der Medizin, insbesondere den Bereichen Onkologie, Rheumatologie, Infektiologie (AIDS) und Kinderheilkunde. Vor diesem Hintergrund traten am 27.10. und am 4.12. 2001 Vertreter der Medizin und ärztlicher Dachverbände, der Kostenträger sowie der Rechtswissenschaft zusammen, um das Problem zu beraten.
II. Ergebnisse der Tagung
1. Es besteht derzeit keine ausreichende rechtliche Grundlage für Regressforderungen allein mit der Begründung eines sonstigen Schadens bei einem Einsatz von Arzneimitteln abweichend von den wesentlichen Zulassungskriterien Indikation, Applikationsart, Dosierung und Medikamentenkombination (Off-label-Use). Dieser ist dem Arzt nach dem Arzneimittelrecht unzweifelhaft gestattet und ist nach den sozialrechtlichen Vorschriften zudem grundsätzlich erstattungsfähig. Die gesetzlichen Krankenkassen haben ihren Versicherten eine dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechende Versorgung unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschritts (§ 2 SGB V) zu gewährleisten. Über den Sicherstellungsauftrag hat der Gesetzgeber die kassenärztlichen Vereinigungen verpflichtet, diese Pflichten der Kassen umzusetzen. Gegen den Stand des medizinischen Wissens verstößt der Arzt nicht schon allein durch den Off-label-Use eines Arzneimittels. Selbstverständlich ist dabei das Wirtschaftlichkeitsgebot zu beachten. Hieran ändern auch die ergangenen Entscheidungen des Bundessozialgerichts nichts: es sind Einzelfallentscheidungen, welche nicht ohne weiteres verallgemeinert werden dürfen.
2. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, nach der eine negative Entscheidung über den Zulassungsantrag auch die Verordnungsfähigkeit zu Lasten der GKV eines Arzneimittels ausschließt (BSG-E 72, 252 - "Goldnerz-Aufbaucreme" -, BSG-Urt. v. 08.03.1995 -
AZ: 1 RK 8/94 - "Edelfosin" -), ist nicht zu beanstanden. Nicht sachgerecht ist jedoch, dass die Erstattungsfähigkeit abgelehnt wird, wenn die Zulassung noch nicht erteilt ist (BSG-E 82, 233 - "Jomol" -) oder auf die Zulassung und den Zulassungsumfang eines Arzneimittels beschränkt wird (BSG Urt. v. 30.09.1999 - AZ: B 8 KN 9/98 KR - "SKAT" -, BSG Urt. v. 28.03. 2000 - AZ: B 1 KR 18/98 KR - "ASI" -).
3. Um den berechtigten und notwendigen Off-label-Use von Arzneimitteln im GKV-System für Patienten, Ärzte und Kostenträger zu gewährleisten, empfehlen die Teilnehmer der Tagung folgende Schritte:
Eine Regelung des Off-label-Use durch eine Forderung von Gesetzesinitiativen erscheint als zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein geeignetes Mittel, um zu einer kurzfristigen Lösung zu gelangen, müsste jedoch als längerfristiges Vorgehen angestrebt werden.
Kurzfristig erscheint das Aussetzen der Regressforderungen als einzige Möglichkeit, einen Versorgungsengpass, insbesondere bei Schwerstkranken und durch ihre Erkrankung vom Tode bedrohten Patienten zu verhindern.
Mittelfristig, d.h. im Jahr 2002, ist die Einsetzung eines durch Konsens mit genügenden Kompetenzen ausgestattetes Gremium notwendig, das fortlaufend den aktuellen Stand des medizinischen Wissens ermittelt, das unter Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgebotes Grundlage für die Verordnungsfähigkeit zu Lasten der GKV ist.
In dieser Phase hat die Schnelligkeit der Entscheidungsfindung zum Wohl der Patienten (§ 70 SGB V, Humanität) Vorrang."
Weitere Informationen
Prof. Dr. Norbert Brockmeyer, Klinik für Dermatologie und Allergologie im St. Josef-Hospital, Klinikum der Ruhr-Universität Bochum, Gudrunstr. 56, 44791 Bochum, Tel. 0234/509-3471, -3474, Fax 0234/509-3472, -3475, Email: m.roos@elis-stiftung.de