Unternehmen fassen Bürokratiebegriff weiter als die Politik
Immer häufiger fühlen sich Unternehmen nicht mehr in der Lage, alle bürokratischen Vorgaben zu erfüllen. Zugleich stellen sie den Sinn vieler Vorschriften in Frage. Und sie kritisieren die hohe Regulierungsdichte, die sie teilweise als mangelndes Vertrauen der Politik und Behörden ihnen gegenüber empfinden. Entsprechend werden die Entlastungsmaßnahmen der Bundesregierung skeptisch betrachtet und der eigentliche Sinn von Bürokratie wie Rechtssicherheit und Gleichbehandlung verkannt. Die Folge: Jedes vierte Unternehmen erfüllt bewusst einzelne bürokratische Erfordernisse nicht ("autonomer Bürokratieabbau").
"Unsere Unternehmensbefragung hat gezeigt, dass das Bürokratieverständnis von Politik und Unternehmen deutlich unterschiedlich ist: Die überwiegende Mehrheit der Unternehmensvertreter und -vertreterinnen fasst den Bürokratie-Begriff weiter als die Politik, die den Begriff auf die Dokumentations- und Informationspflichten sowie auf den benötigten Erfüllungsaufwand beschränkt. Dagegen zählt der Großteil der Unternehmen auch halböffentliche Vorgaben von Selbstverwaltungsorganisationen der Wirtschaft, Normungsinstituten oder Berufsgenossenschaften dazu", erläutert Prof. Dr. Friederike Welter (IfM Bonn/Universität Siegen). "Es wundert daher nicht, wenn die Bürokratieentlastungsmaßnahmen, die die Bundesregierung unternimmt, in den Unternehmen skeptisch gesehen werden. Schließlich entstehen zum Teil die Regulierungen und Vorgaben in Bereichen, in denen die Politik nur wenig Einflussmöglichkeiten hat."
Im Rahmen der Studie haben die IfM-Wissenschaftler erstmalig die Wahrnehmung von Bürokratie – und nicht den messbaren Zeit- und Kostenaufwand – untersucht und dabei drei Wahrnehmungstypen identifiziert: Die Verdrossenen, die sich unverhältnismäßig stark vom bürokratischen Aufwand belastet fühlen und häufig sehr emotional auf das Thema "Bürokratie" reagieren. Die Pragmatischen, die zwar auch die Bürokratiebelastung als vergleichsweise "hoch" empfinden, damit aber wesentlich sachlicher als die Verdrossenen umgehen. Und die Unbelasteten, die sich durch einen eher sachlichen und emotionslosen Umgang mit Bürokratie auszeichnen.
Neben dem individuellen Bürokratieverständnis spielen auch die Erfahrungen, die die Unternehmensvertreterinnen und -vertreter mit bürokratischen Vorgaben gemacht haben, eine wesentliche Rolle für ihre Bürokratiewahrnehmung: So berichteten unter den "Verdrossenen" fast neun von zehn Unternehmen über (sehr) schlechte Erfahrungen mit Bürokratie.
Insgesamt zeigt die Studie, dass Bürokratieabbaumaßnahmen und die Informations- und Kommunikationspolitik deutlich zu kurz greifen, wenn sie sich vornehmlich auf die Reduzierung von Dokumentationspflichten und den Erfüllungsaufwand konzentrieren. "Der Schlüssel zu spürbarem Bürokratieabbau liegt darin, dass sich die Politik zunächst das unterschiedliche Bürokratieverständnis bewusst macht. Anschließend gilt es, den Abbau der Informations- und Dokumentationspflichten sowie des Erfüllungsaufwands verstärkt in den Blick zu nehmen. Zugleich sollten aber auch die nicht-staatlichen Institutionen wie Kammern und Berufsgenossenschaften für eigene Bürokratieabbaumaßnahmen sensibilisiert werden", empfiehlt die IfM-Präsidentin. "Hinweise auf verzichtbare Belastungen kommen durchaus auch von Seiten der Unternehmensvertreter und -vertreterinnen. Laut unserer Unternehmensbefragung sind selbst die 'Verdrossenen' bereit, beim Prozess des Bürokratieabbaus mitzuwirken, wenn sie sich von der Politik ernstgenommen fühlen."
Die Studie "Bürokratiewahrnehmung von Unternehmen" ist auf der Homepage des Instituts für Mittelstandsforschung (www.ifm-bonn.org) abrufbar.
Weitere Informationen:
https://www.ifm-bonn.org/fileadmin/data/redaktion/publikationen/ifm_materialien/dokumente/IfM-Materialien-274_2019.pdf